Das Bundesgericht befasst sich im zur Publikation vorgesehenen Urteil 8C_333/2023 vom 1. Februar 2024 im Rahmen eines Rückerstattungsfalles aus dem Kanton Basel-Landschaft mit dem Verhältnis der Pflicht zum Vorbezug von Freizügigkeitsguthaben der beruflichen Vorsorge und dem Anspruch auf Sozialhilfe.
Der Beschwerdeführer hatte ein Freizügigkeitskonto nicht offengelegt, woraufhin die Sozialhilfebehörde eine Rückerstattung verfügte. Das Bundesgericht gelangt zum Schluss, dass eine unterstützte Person nicht zum Vorbezug des Freizügigkeitsguthabens verpflichtet werden kann, wenn dieses vor Erreichen der Altersgrenze zum Vorbezug der AHV-Rente bereits aufgebraucht wäre. Folglich ist auch eine Rückerstattung nicht zulässig.
Die Vorinstanzen argumentierten mit dem Subsidiaritätsprinzip und hatte insb. erwägt:
Beim heute 64-jährigen Beschwerdeführer sei davon auszugehen, dass er sein Freizügigkeitsguthaben nach einem Vorbezug innert weniger Jahre aufgebraucht haben werde. Bei einem Vorbezug der Freizügigkeitsleistung im Alter von 60 Jahren hätte er bei Erreichen des Rentenalters sogleich Ergänzungsleistungen beantragen müssen. Insofern hätte der Vorbezug nicht zu einer empfindlichen Schmälerung der Alterssicherung geführt. Der Vorbezug hätte sich somit im vorliegenden Fall für den Beschwerdeführer nicht nachteilig ausgewirkt. (E. 3.1, Hervorhebung durch mich)
Vorab stellt das Bundesgericht klar, dass die Einstellung keine Sanktion darstellt (E. 5.3, siehe auch kürzlich erschienener Beitrag) und daher nicht bereits die Verletzung der Mitwirkungspflicht allein eine Rückerstattung rechtfertigt. Es reiht sodann die berufliche Vorsorge mit Blick auf das Subsidiaritätsprinzip ein.
Unbestritten war, dass das Vermögen rund CHF 105’000 betragen habe und, dass der Beschwerdeführer damit die Bedürftigkeit zumindest vorübergehend aus eigenen Mitteln hätte überwinden können (E. 6.5). Aber:
Zwar erscheint die Pflicht zum Bezug des Freizügigkeitsguthabens mit 60 Jahren vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsgrundsatzes, der sowohl ein tragender Gedanke des kantonal beherrschten Sozialhilferechts als auch ein Grundprinzip der Bundesverfassung (vgl. Art. 6 BV) bildet, nicht kategorisch ausgeschlossen (vgl. auch MEIER, a.a.O., Rz. 59 und 61). Es liegt aber auf der Hand, dass es mit dem vorsorgerechtlichen Zweck unvereinbar wäre, wenn das dem Vorsorgefall Alter dienende Freizügigkeitsguthaben im Zeitpunkt des AHV-Rentenbezugs bereits vollständig aufgebraucht wäre. […] Im Rahmen einer mit Blick auf die Bedeutung des Vorsorgeschutzes gebotenen Verhältnismässigkeits- bzw. Zumutbarkeitsprüfung muss eine solche Verpflichtung zumindest dann als unverhältnismässig betrachtet werden, wenn trotz des Vorbezugs ein neuerlicher Rückfall in die Sozialhilfe vor dem Zeitpunkt des AHV-Vorbezugs (mit 63 Jahren) droht. (E. 7.3.2, Hervorhebungen durch mich)
Mit dem verfassungsmässig vorgegebenen Ziel der beruflichen Vorsorge ist es sodann besser vereinbar, den für obige Prüfung errechneten Verbrauch des Freizügigkeitsguthabens nach dem ELG-Bedarf zu berechnen, als mit dem sozialhilferechtlichen Bedarf. Mit dieser Berechnung hätte das Freizügigkeitsguthaben nicht bis zum AHV-Renten-Vorbezug des Beschwerdeführers gereicht.
Ein Vorbezug zum frühestmöglichen Zeitpunkt hätte für den Beschwerdeführer hingegen bewirkt, dass er seinen gesamten Lebensunterhalt zu 100 % aus eigenen Mitteln hätte bestreiten müssen. Demgegenüber wäre ihm bei einem gleichzeitigen Bezug zusammen mit der AHV-Altersrente und den Ergänzungsleistungen lediglich ein Zehntel seines Vermögens als Vermögensverzehr angerechnet worden, soweit es den für alleinstehende Personen geltenden Vermögensfreibetrag von Fr. 37’500.- bzw. 30’000.- überstiegen hätte (vgl. Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG; je in den vor und seit 1. Januar 2021 geltenden Fassungen). Er hätte diesfalls somit “für eine deutlich längere Zeitdauer in einem Mischverhältnis von AHV-Rente, Ergänzungsleistungen und Vermögensverzehr leben und damit die persönliche Unabhängigkeit und Verantwortung länger wahren” können (vgl. MEIER, a.a.O., Rz. 61). (E. 7.3.4, Hervorhebungen durch mich)
Interessant ist schliesslich der Hinweis zur Bedeutung der SKOS-Richtlinien:
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass das Ergebnis der vorangegangenen konkreten Einzelfallprüfung nicht nur im Einklang mit den SKOS-Richtlinien steht, auf die § 6 Abs. 3 SHG – wenn auch nur im Sinne einer Orientierungshilfe (vgl. E. 5.1 hiervor) – verweist und die immerhin Ausdruck eines vergleichsweise breit abgestützten Konsenses sind (vgl. auch Urteil 2P.298/2006 vom 20. März 2007 E. 2.2, wonach die SKOS-Richtlinien als Massstab des im schweizerischen Fürsorgewesen Üblichen herangezogen werden können, auch wenn das kantonale Sozialhilfegesetz nicht direkt darauf verweist). (E. 7.3.6, Hervorhebungen durch mich)
Die Ungleichbehandlung zu Personen, die freiwillig ihr Freizügigkeitsguthaben bezogen haben, sei sachlich gerechtfertigt.
Diese Ungleichbehandlung ist sachlich aber insofern gerechtfertigt, als sich die betreffende Person aus freien Stücken, etwa um von der Sozialhilfe wegzukommen und um den Lebensstandard zu verbessern, bewusst für einen Vorbezug entschieden hat. Ab dem Zeitpunkt, in dem die betroffene Person ihre Freizügigkeitsleistung tatsächlich bezogen hat, ist der Vorsorgeschutz nicht mehr verletzt. Dieser wird durch die Willenserklärung der betroffenen Person zur Frühpensionierung gerade aufgehoben, und zwar mit dem Ziel, Zugriff auf die Freizügigkeitsleistung zu bekommen, um davon den Lebensunterhalt ab der Frühpensionierung zu finanzieren. (E. 7.3.7, Hervorhebungen durch mich)
Das Bundesgericht fasst zusammen:
Zusammenfassend hätte die Sozialhilfebehörde, wenn sie denn vom Bestand des Freizügigkeitsguthabens des Beschwerdeführers Kenntnis gehabt hätte, diesen nicht zum Bezug im Alter von 60 Jahren verhalten können. Aufgrund des anzunehmenden vollständigen Verbrauchs des Freizügigkeitsguthabens und der damit einhergehenden drohenden Gefahr einer erneuten Sozialhilfeabhängigkeit vor Erreichen des 63. Altersjahres wäre ein Vorbezug ab April 2019 im vorliegenden Fall nicht zumutbar gewesen. Mithin wiegt der Vorsorgeschutz in der vorliegenden Konstellation schwerer als das Subsidiaritätsprinzip. […] Indem das kantonale Gericht zum Schluss gelangt ist, der Beschwerdeführer hätte sein Freizügigkeitskapital bereits mit 60 Jahren beziehen müssen und es die Rückerstattungspflicht im Umfang von Fr. 77’671.80 bestätigte, hat es § 7 Abs. 1 und 2 SHG sowie § 13a Abs. 1 SHG willkürlich angewendet und bei der Abwägung zwischen Subsidiartitätsprizip (E. 7.3.2) und dem bundesrechtlichem Vorsorgeschutz (E. 6.2 f.) den Verhältnismässigkeitsgrundsatz (vgl. Art. 5 Abs. 2 BV) willkürlich übergangen. (E. 7.4, Hervorhebungen durch mich)
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